TOUCH MEETS TASTE
ODER "Wieso Essen so viel mehr sein kann als nur Nahrungsaufnahme."
Der Akt des Essens ist ein hochgradig multisensueller Prozess. Alle menschlichen Sinne arbeiten Hand in Hand miteinander und schaffen so einen Gesamteindruck - ein GeschmacksERLEBNIS.
Um zu erläutern, wieso der Akt des Essens so viel mehr sein kann als reine Nahrungsaufnahme, werden im Folgenden drei Themen genauer in Augenschein genommen: Zum einen das menschliche Tastsinnessystem, zum anderen die Bereiche der Gastrophysik und des sogenannten Eating Designs.
TASTSINN
Die Leistungen des menschlichen Tastsinnessystems lassen sich grundsätzlich in vier verschiedene Bereiche einteilen: Tastsinn, Wärmeempfinden, Propriozeption und Gleichgewichtssinn. (1)
Der Bereich des Tastsinnes deckt die Wahrnehmungen von Berührungsreizen ab, die wir an unserer Haut spüren können. Daher gilt die menschliche Haut als größtes Sinnesorgan des Menschen. (2) Hierbei wird, wenn auch meist nicht im alltäglichen Sprachgebrauch, zwischen taktiler und haptischer Wahrnehmung unterschieden. Die taktile Wahrnehmung meint das passive Erfahren von Berührungsreizen. So zum Beispiel das Gefühl einer warmen, sanften Hand, die sich uns auf die Schulter legt. (3) Die haptische Wahrnehmung ist das Gegenstück, also das aktive Erfahren von Berührungsreizen. Sie ist die Kombination aus der taktilen Wahrnehmung, dass etwas unsere Haut berührt, und der Propriozeption (4), die unbewusst Bewegungen steuert, überwacht und zielgerichtet ermöglicht. (5)
Das Tastsinnessystem ist für den Menschen unabdingbar. Der deutsche Haptik-Forscher Dr. Martin Grunwald (*1966) sagt folgendes:
"Ohne Tastsinn könnten wir nicht leben." (6)
Neben vielen Erkenntnissen aus seinen Forschungen, vor allem auch zur Entwicklung des Tastsinnessystems bei Embryonen und dessen Relevanz für das spätere Neugeborene, spielt vor allem eine Leistung dieses menschlichen Sinnes eine zentrale Rolle: Das Tastsinnessystem ermöglicht es dem Menschen zwischen sich - seinem eigenen Körper - und seiner Umwelt klar zu unterscheiden. (7)
Gucken wir uns den Tastsinn einmal in seiner alltäglichen Funktion an, wenn wir Gegenstände beurteilen. Form, Materialität, Oberflächeneigenschaften und die Temperatur eines Gegenstandes werden haptisch erfahren. Dank propriozeptiver Wahrnehmung können beispielsweise Gewicht und Elastizität bestimmt werden. (8)
Haptisch und taktil wahrgenommene Eigenschaften können die menschliche Wahrnehmung eines Gegenstandes oder der Situation, in der der Gegenstand berührt wurde, beeinflussen. (9)
Haptisch Erfahrenes wird vom Menschen nie in Frage gestellt, sondern stets als absolute Wahrheit angesehen. (10) Dadurch dass mittels des Tastsinns physische Materialeigenschaften eines Gegenstandes beurteilt werden können, dient der Tastsinn so oft auch zur Überprüfung des Gesehenen oder Gehörten. (11) Sehen wir beispielsweise einen silber-glänzenden Knopf an einem Elektrogerät, können wir haptisch überprüfen, ob dieser Knopf - entsprechend seines visuellen Versprechens - tatsächlich aus Metall ist oder doch aus Kunststoff. (12) Wie wir im Folgenden die haptische Überprüfung für uns selbst einordnen, ist wiederum von vielen Faktoren abhängig. Es ist von unserer kulturellen Prägung, von landesspezifischen Vorlieben, von Alter und Geschlecht oder auch vom Bildungsstand abhängig. (13)
Gastrophysik
Das weite Feld der Gastrophysik ist vor allem von einem Mann geprägt: Experimentalpsychologe Charles Spence, Professor an der University of Oxford. Er thematisiert den, wie er es nennt, Einfluss des "everything else" (1) auf die menschliche Geschmackswahrnehmung.
Was ist das "everything else" (2) nach Spence? In der Gastrophysik wird davon ausgegangen, dass sämtliche Faktoren unserer Nahrung und der Umgebung, in der wir diese Nahrung zu uns nehmen, sowie die daran gekoppelten Umstände, einen Einfluss auf unsere Erwartungshaltung der Nahrung gegenüber und auf die tatsächliche Geschmackswahrnehmung haben. "Unser Geschmackssinn interagiert ständig und intensiv mit anderen Sinnen." (3) Dies macht verständlich, was Spence' "everything else" meint. Farbe und Form des Essens, des Geschirrs, das Gewicht des Bestecks, die Oberfläche und Materialität des Bestecks, die Größe der Teller, Umgebungsgeräusche und -gerüche - alles kann unsere Geschmackswahrnehmung beeinflussen, kann mit unserer Erwartungshaltung spielen.
Beispielsweise assoziieren wir aufgrund unserer kulturellen Prägung - kontextabhängig - Schweres mit Wertigem. Daher nehmen wir schweres Besteck als hochwertiger wahr. Infolgedessen bewerten wir auch das damit zu uns genommene Essen besser! (4)
Auch die Assoziationsfähigkeit von Formen mit Geschmäckern, Aromen und Texturen verläuft bei den meisten Menschen in einem ähnlichen Muster:
Runde Formen werden meist mit Süßem assoziiert, wecken also zumeist positive Emotionen. Mit eckigeren bzw. eckigen Formen werden eher die Geschmäcker salzig, bitter und sauer verbunden. Auch kohlensäurehaltige Getränke werden oft mit eckigen Formen assoziiert. (5)
Neben Formen beeinflussen auch Farben die Erwartung und die tatsächliche Geschmackswahrnehmung des Essens. Hier ist nicht nur die Farbe des Essens selbst gemeint, sondern auch die Farbe von Geschirr und Besteck. Die Farbe Rot führt zum Beispiel zu einem spannenden Gegensatz: Hat das Essen oder das Getränk einen rot bis pinken Farbton, so wird es laut Experimenten um bis zu zehn Prozent süßer wahrgenommen. (6) Ist hingegen das Geschirr rot, konnte eine appetithemmende Wirkung bei den konsumierenden Personen festgestellt werden. Dies wird auf die Funktion des Farbtons Rot als Signal- und Warnfarbe zurückgeführt. (7)
Dies sind nur ein paar Beispiele von Erkenntnissen und Annahmen der Gastrophysik. Wer mehr über das Thema der Gastrophysik erfahren möchte, findet im gleichnamigen Buch von Professor Charles Spence viele weitere spannende und überraschende Informationen.
EATING DESIGN
Der Begriff des Eating Designs ist untrennbar mit der holländischen Designerin Marije Vogelzang verbunden, die sowohl als Begründerin als auch als Vorreiterin in diesem Bereich gilt. Um zu verstehen, worum es im Eating Design eigentlich geht, hilft ein Zitat Vogelzangs:
"The food itself is already perfectly designed by nature, so there's hardly anything I have to add to it." (8)
Sie sieht die Aufgabe eines Eating Designers vor allem darin, nicht das Essen an sich zu designen, sondern den Akt des Essens wieder in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken. Auch weitere Themen wie beispielsweise Lebensmittelverschwendung, Essgewohnheiten und der ökologische Fußabdruck können mittels eating design thematisiert werden und so in den Fokus rücken. (9)
"I keep food natural and use to work with the psychology of eating, the act of sharing food, and understanding where our food comes from." (10)
Auch sieht Vogelzang das Essen und den Prozess des Essens eng verknüpft mit Emotionen und Erinnerungen. (11)
Vogelzang konzentriert sich in ihren Arbeiten allerdings nicht nur auf Emotionen, sondern bezieht sich auch auf wissenschaftliche Fakten. Bei ihrem Projekt Volumes aus dem Jahr 2017 werden kleine keramische Objekte in der Mitte eines Teller platziert. Spielerisch kann nun das Essen um die Objekte und auf den Objekten angerichtet werden.
Die Serie basiert auf der wissenschaftlichen Annahme, dass nicht der menschliche Magen dafür zuständig ist, ein Sättigungsgefühl zu vermitteln, sondern dass dies visuell geschieht. (12) Da sich das Auge täuschen lässt, neigt man dazu, von großen Tellern mehr zu essen und trotzdem das gleiche Sättigungsgefühl zu empfinden, wie nach dem Essen von einem kleineren Teller. (13)
"By giving more attention to the presentation of our food we might be able to change our mindless consumption behavior into a mindful experience." (14)
TOUCH MEETS TASTE
Die vorangegangenen Einblicke zeigen, dass der Akt des Essens tatsächlich sehr viel mehr als nur einfache Bedürfnisbefriedigung ist. Es lässt sich feststellen, dass vor allem die Rolle des Tastsinns und das Zusammenspiel von Tast- und Sehsinn in der alltäglichen Wahrnehmung verkannt werden.
Mit einem stärkeren Fokus auf die haptische Wahrnehmung des Essenden soll die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Prozess des Essens und auf das Essen selbst gelegt werden. Gerade in der heutigen Zeit schenken wir unserem Essen oft weniger Beachtung, als es verdient hätte. Smartphones, Netflix und YouTube lenken uns ab - mit negativen Folgen: Der unaufmerksame Konsum führt dazu, dass wir oft mehr essen, als wir eigentlich wollen. Das Sättigungsgefühl tritt verzögert ein. (15)
Je mehr Sinne ein Mensch benutzt, um eine Situation oder ein Objekt - in dem Fall das Essen - wahrzunehmen, desto intensiver wird das Erlebte wahrgenommen und desto tiefer die emotionale Verbindung. (16) Außerdem werden multisensuell wahrgenommene Situationen oder Gegenstände evolutionär bedingt vom menschlichen Gehirn als besonders relevant eingestuft und verankern sich infolgedessen langfristig im Gedächtnis. (17)